(Hoch-)Leistungstraining ist heute ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Fachrichtungen. Moderne Trainingskonzeptionen betrachten nicht mehr nur die physiologische Ebene des Athleten bzw. der Athletin, sondern auch sein bzw.- ihr Umfeld. Ernährung spielt ebenso wie die Frage nach der Motivation und der Kommunikation aller am Trainingsprozess beteiligten eine große Rolle.

Und dann gibt es immer wieder neue Konzepte: Kryotraining, High Intensity Intervall Training (HIIT), Kreatin-Supplementation, blood-flow-restriction Training (BFR) etc. pp. Trainerinnen und Trainer sind gut daran beraten (1) aktuelle Trends zu beobachten und (2) diese, insbesondere mit Blick auf die propagierten physiologischen Wirkweisen, kritisch zu hinterfragen.

In meiner Tätigkeit als Professor mit der venia legendi Bewegungsneurowissenschaft, wurde ich in den vergangenen Monaten immer wieder mit einem, scheinbar neuen, Trainingskonzept, dem Neuro-Athletik-Training konfrontiert. Nicht nur Trainierinnen und Trainer beschäftigt dieses Konzept, auch Athletinnen und Athleten sind – insbesondere ob der Nomenklatur „Neuro“ – interessiert. Gleichzeitig findet sich aber kaum wissenschaftliche Literatur zum Thema.

Der Begriff „Neuro“ ist zweifelsohne sexy und verkaufsfördernd. Allein durch die Begrifflichkeit wird ein innovatives und modernes Trainingskonzept assoziiert. Ich erlaube es mir aber an dieser Stelle einmal auf die Trivialität des Begriffs Neuro im Kontext des Systems Mensch hinzuweisen. Ein Neuron ist eine Nervenzelle und damit verantwortlich für die Transmission von Informationen innerhalb des menschlichen Körpers. Egal wo im Körper, die Grundprinzipien der neuronalen Kommunikation sind immer dieselben: Ein Aktionspotential sorgt für die Freisetzung von Neurotransmittern am präsynaptische Spalt, diese wiederum diffundieren durch den synaptischen Spalt und docken an spezifischen Rezeptoren auf der postsynaptischen Membran an, wo sie wiederum ein Aktionspotential auslösen.

Man könnte vereinfacht sagen: Ohne Neurone geht im menschlichen Körper gar nichts. Alle Prozesse innerhalb des Körpers basieren auf neuronaler Kommunikation. Unser Zentrales Nervensystem (ZNS), unser Gehirn versorgt den Rest des Körpers entweder direkt über absteigende Nervenbahnen (Efferenzen, so in der Motorik) oder über die Ausschüttung von Hormonen mit Informationen, wie dieser sich, situationsadäquat zu verhalten hat. Dem voraus geht, unter Einbeziehung sämtlicher zur Verfügung stehender Sinnesinformationen, eine intensive neuronale Aktivität innerhalb des ZNS. Auch die Sinnesinformationen (visuell, akustisch, propriozeptiv, vestibulär, taktil), werden über sogenannte afferente Nervenbahnen ins ZNS kommuniziert. Oftmals erfolgt die Integration sensorischer Informationen auch komplett unbewusst und manchmal sogar nur innerhalb des peripheren Nervensystems (PNS, so z.B. bei den einfachen Reflexen).

Zurück zum Neuro-Athletik-Training. Unter Neuro-Athletik-Training verstehen die Autoren populärwissenschaftlicher Publikationen ein Training des Gehirns und des Nervensystems zur Leistungsoptimierung (auch) im Spitzensport. Angepriesen wird dies mit revolutionären neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Schaut man etwas genauer hin stellt man fest, dass es beim Neuro-Athletik-Training um ein gezieltes Training der sensorischen Wahrnehmung bzw. der Integration der sensorischen Feedbackschleife in die Planung und Ausführung von Bewegung geht.  Wer sich in seinem Studium und/oder seiner Trainerausbildung etwas mit dem Thema Sensomotorik beschäftigt hat, wird relativ schnell feststellen, dass dies alles recht wenig revolutionär ist. Bereits 1968 publizierten William T. Bradley und Koautoren ein Handbuch Daily Sensorimotor Training Activities, indem Sieein Vielzahl an sensomotorischen Übungen und Bewegungsabläufen zeigen, die der „modernen“ Idee des Neuro-Athletik-Trainings recht nahe kommen.

Der Sinn eines Neuro-Athletik-Trainings ist unbestritten und gängige Trainingspraxis: Angefangen beim Reaktionszeittraining (visueller/akustischer Reiz), über propriozeptives und vestibuläres Training (Gleichgewichtssinn) und der generellen Wahrnehmung von und Adaptation an Umwelteinflüsse. Natürlich sind die Sinne trainierbar und adaptieren bei gegebenen Reizen, das ist kein neuronales Hexenwerk. Und auch ist es möglich über ein gezieltes Training, beispielsweise der Blickmotorik (Visuomotorik) den Bewegungsablauf zu optimieren. Das einfachste Beispiel dafür ist der Blick nach unten zur Einleitung des Purzelbaums. Mit dem Blick nach unten beugt sich auch die Hüfte, wir rollen uns ein und dann im besten Falle nach vorne. Neuromagie!

Im Zuge der Leistungsverdichtung im Hochleistungssport kann ein Neuro-Athletik-Training (aka sensomotorisches Training) den Ausschlag geben und entscheidend sein, kann über Sieg und Niederlage über Ruhm und Ehre oder Bedeutungslosigkeit entscheiden. Es macht Sinn, sensorische Defizite bei Athletinnen und Athleten, insbesondere an der Leistungsspitze mit einer Anamnese zu erfassen und diese dann gezielt und isoliert zu trainieren. Das kann man als sensorisches Training bezeichnen. Unter Einbezug der resultierenden Motorik auch als sensomotorisches Training. Und weil das alles was mit Nervenzellen zu tun hat, auch als Neuro-Training. Und weil Athleten und Athletinnen beteiligt sind, als Neuro-Athletik-Training.

Es ist aber dringend nötig zu differenzieren, was tatsächlich zur Verbesserung der sensorischen Integration dient und was lediglich eine Marotte zur Ablenkung und Fokussierung ist. Batterien lutschen kann funktional sein, jedoch bezweifle ich, abgesehen von der Zungenmuskulatur, eine neuromuskuläre oder sensomotorische Wirkung. TrainerInnen und Trainer ebenso wie Funktionäre sollten daran denken, dass es Trainingswissenschaften heißt und nicht Trainingshokuspokus. 

Auch im Kindes-, Jugend- und Nachwuchsbereich macht ein breit gefächertes Training der Sensomotorik Sinn und ist Grundlage für die allgemein motorische und kognitive (Stichwort „physical literacy“) ebenso wie für die anschließende sportartspezifische Entwicklung. Ein besonderes Augenmerk gilt dem sensomotorischen Training (aka Neuro-Athletik-Training) im Bereich der Neurorehabilitation nach Schädigungen des zentralen und peripheren Nervensystems.

Ich möchte es noch einmal explizit betonen. Im Trainingswissenschaftlichen Bereiche kommen immer wieder neue Konzepte und Ideen auf. Und der Neuro-Bereich wird gerade sehr gehypt. Nicht nur im Leistungssport, sondern auch im alltäglichen Leben geht es um neuronale Leistungsoptimierung.  Auch wenn die propagierten Mittel und Methoden, Ansätze und Ideen sinnvoll erscheinen (es ist Übrigens ureigene Aufgabe einer Marketingabteilung Dinge sinnvoll erschienen zu lassen)  sind Trainerinnen und Trainer ebenso wie Athletinnen und Athleten gut daran beraten wissenschaftliche Expertise zu suchen – und hier sind die sportwissenschaftlichen Institute der Universitäten sicherlich der beste Ansprechpartner. Vor allem, da sie nicht primär an wirtschaftlichem Erfolg orientiert, sondern dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn verpflichtet sind. In wieweit wissenschaftliche Erkenntnisse und Ergebnisse dann in der Praxis auch umsetzbar sind, muss in einem transparenten Dialog mit allen beteiligten Akteuren erfolgen. 

Auch der Verdauungstrakt des Menschen besteht übrigens aus einem komplexen neuronalen Netzwerk, dem sogenannten enterischen Nervensystem, welches u.a. die Darmperistaltik reguliert um das was im Darm ist, zu seinem Ende zu bringen. Der nächste Trend wird also die Neuroverdauung sein. Was ein Scheiß.

Und noch zwei Beobachtungen, die durchaus zu ende gedacht werden dürfen: (1) Autoren bewerben Ihre Bücher zum Neuro-Athletik-Training u.a. mit der Aussage, dass das Neuro-Athletik Training zum Erfolg der Fußballnationalmannschaft in Rio 2014 beigetragen hat. Dem möchte ich nicht widersprechen, gebe aber zu bedenken, dass im trainingswissenschaftlichen Bereich die Tendenz besteht erfolgreiche Konzepte zu etablieren und weiterzuführen, was dann bzgl. des Abschneidens der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 2018 in Moskau durchaus Fragen aufwirft.  (2) Ein ähnliches Phänomen der Laudatio des goldenen Kalbes lässt sich bei der kommerziellen Neurostimulation durch die sog. Hirnstimulation (transkranielle Gleichstromstimulation tCDS) beobachten. Manche bezeichnen dies auch bereits als Neurodoping. Kaum war aus der klinischen Applikation der tCDS (u.a. bei Schlaganfallpatienten) ein kommerzielles Gerät mit entsprechend werbewirksamer Botschaft entwickelt (u.a. Halo Neuroscience: Upgrade your brain!), bestätigten die ersten Athleten, u.a. Michael Tinsley, 2012 Olympiazweiter mit einer Zeit von 47,91s über 400m Hürden, in medienwirksamen Auftritten jetzt NUR NOCH und ausschließlich unter Einbezug der Neurostimulation zu trainieren. Bei den nächsten Olympischen Spielen 2016 in Rio schied Michael Tinsley dann übrigens bereits im Vorlauf als 37. mit einer Zeit von 50,18s aus.

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